Kennen Sie das Märchen Hensel und Gretel so wie es Paul Maar erzählt, nämlich aus der Perspektive der Hexe? In seiner Geschichte nimmt eine arme, ältere Frau selbstlos zwei Kinder, die sich im Wald verlaufen haben, in ihrem Haus auf, verköstigt sie und wird zum Dank von den bösen Kindern in den Ofen gestoßen. (Link: hier das ganze Märchen zum Nachlesen).
Eine Geschichte, die unmittelbar klar macht: unser Mitgefühl gilt ganz automatisch demjenigen, dessen Geschichte wir kennen. Nicht immer denken wir dann daran, dass wir in den meisten Fällen nur eine Seite der Medaille kennen und es immer auch noch eine andere, genauso stimmige Perspektive auf einen Sachverhalt geben kann. Wenn wir diese kennen würden, sähe die Lage oftmals ganz anders aus. Manches unerklärliche Verhalten würde verständlich und so manche Feindschaft würde sich als Missverständnis entpuppen
„Es gibt niemanden, den du nicht lieben kannst, wenn du seine Geschichte hörst.“ Andrew Stanton
Dieses Zitat des amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs (von z. B. Finet Nemo, Toy Story, Monster AG) Andrew Stanton ist in diesem Zusammenhang eines meiner Lieblingszitate und ich finde, Storytelling sollte immer auch als Chance angesehen werden die Geschichte der anderen zu erzählen.
Nicht nur im Märchen auch im Berufs- und Projektleben tut ein solcher Perspektivenwechsel oftmals gut, ja ist sogar notwendig um eingefahrene Denkweisen und Mechanismen in Unternehmen zu überwinden. Gerade in komplexen Projekten mit interdisziplinären Teams gibt es eine Menge an Perspektiven die man einnehmen kann: Den Standpunkt des verärgerten Geschäftsführers, der notwendige Kooperationspartner ins Boot geholt hat um seine Mitarbeiter zu entlasten und nicht versteht, warum diese so unproduktiv arbeiten, ist genauso richtig und rund, wie die des Überforderten Projektleiters, welcher die „Neuen“ nichts ins Team integrieren kann, weil (wieder eine neue Perspektive) diese der Meinung sind sie schaffen es alleine und dass diese teuren Partner keine Einarbeitung und Hilfe bräuchten. Eine verworrene und für den Betrieb kostspielige Angelegenheit und jeden, den Sie erzählen lassen hat irgendwie Recht.
Spannend wird es, wenn diese unterschiedlichen Perspektiven in einen gemeinsamen Erzählstrang, in eine gemeinsame Geschichte gebracht werden. Genau das ermöglichen die sogenannten Learning Histories (zu dt. Erfahrungsgeschichten).
Auch nach mittlerweile über 15 Jahren Beschäftigung mit Storytelling und Learning Histories, ist dieser spezielle Moment immer wieder wie ein Wunder, wenn sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Erfahrungsgeschichte bei den Betroffenen Verständnis für das Verhalten der „anderen“ zeigt. Ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg von Verhaltensveränderungen.
Allerdings braucht es für dieses Wunder immer auch die Bereitschaft sich auf die Geschichte der anderen einlassen zu wollen. Weshalb ich das Zitat von Andrew Stanton leicht abändern würde in:
„Es gibt niemanden, den du nicht verstehen kannst, wenn du seine Geschichte hören willst!“
Ich wünsche allen eine gute Zeit und schicke herzliche Grüße,
Karin Thier