Ende letzten Jahres haben wir gemeinsam mit unserem Kunden Stefan Lange von MTU Aero Engines einen Artikel* im Magazin changement! veröffentlicht. Darin erzählen wir über unser gemeinsames Storytelling-Projekt in dessen Rahmen u. a. auch Change-Comics erstellt wurden. Jetzt dürfen wir den Artikel in voller Länge hier in unserem Blog veröffentlichen.
Viel Spaß beim Lesen wünscht,
Karin Thier
Neue Projektstrukturen und ein Wandel im Führungsstil verlangen von den Mitarbeitern Veränderungen im eigenen Denken und Hande. Einen solchen Prozess in Gang zu setzen, ist kein leichtes Unterfangen. Meist haben sich Überzeugungen, die Erfolg gebracht haben, über Jahre festgefahren und werden nicht mehr hinterfragt. Wie Abenteuergeschichten die Mitarbeiter beim Umdenken unterstützen, zeigt der Einsatz der Storytelling-Methode beim Triebswerkshersteller MTU Aero Engines.
„Der Staub auf den Motorhauben der LKWs zeugte von deren langen Reise entlang der staubigen Route 77.“ So beginnt eine der vier Kurzgeschichten, die MTU zur Steigerung des Veränderungswillens und der Veränderungskompetenz von Projektteams mithilfe des Storytelling-Prozesses einsetzte.
Ungewohnte Herausforderungen, wie sich ändernde Teamstrukturen auf Grund des demographischen Wandels, immer komplexer werdende Projektvorhaben und ein neues Verständnis von Führung und von Projektrollen verlangten von den Mitarbeitern ein nachhaltiges Umdenken. Für MTU war es in dieser Situation wichtig, die Belegschaft konsequent auf diese Veränderungen vorzubereiten, sie einzubinden und ihnen durch geeignete Methoden die Angst vor dem Wandel zu nehmen.
MTU entschied sich für den Einsatz einer unkonventionellen Methode: Storytelling. Typische Konfliktsituationen im Team sollten exemplarisch anhand eines gerade abgeschlossenen Großbauprojekts analysiert und in Form einer gemeinsamen Erfahrungsgeschichte erzählt werden. Mit diesen Stories sollte es für Mitarbeiterteams und Führungskräfte möglich werden, miteinander in einen Dialog zu treten.
Wie können wir unser neues Verständnis von Führung verständlich kommunizieren? Wie verdeutlichen wir, zu welchen Fehlentwicklungen falsch verstandene Projektrollen führen können? Wie erhöhen wir die Akzeptanz für den Einsatz von erforderlichen Kooperationspartnern? Um diese Leitfragen drehte sich das Auftaktgespräch mit der Führungsebene des Großbauprojekts. Ziel des Austauschs war es, mögliche Inhalte für die Geschichten zu eruieren. Es kristallisierten sich die drei erwarteten Themenfelder Führungsstil, Projektrollen und Kooperation heraus.
In anschließenden narrativen Interviews wurden der Gesamtprojektleiter und alle Projektleiter der einzelnen Fachrichtungen einzeln interviewt, um positive und negative Erfahrungen mit Unterstützung externer Spezialisten in Erfahrung zu bringen. Die Erzählungen zeigten beispielsweise beim Thema Projektrollen, dass Mitarbeiter und Management teils recht unterschiedliche Vorstellungen von den Aufgaben der Projektleitung hatten. Während das Leadership erwartete, dass die Projektleitung gemeinsam mit dem Team an Problemlösungen arbeitete, sah sich der Projektleiter oft in der ausschließlichen Verantwortung und fällte seine Entscheidungen im Alleingang.
Bei der Auswertung der Interviews wurde deutlich, dass viele wertvolle Erfahrungen gesammelt werden konnten, diese aber durchaus heikle zwischenmenschliche Konflikte zum Ausdruck brachten. MTU entschied sich daher gegen die Aufbereitung einer Erfahrungsgeschichte entlang des realen Projektgeschehens.
Stattdessen wurden die Geschichten in ein analoges Setting überführt und archetypische Protagonisten erstellt. So spielte die Geschichte nicht wie tatsächlich auf einer Baustelle, sondern auf der „Route 77“, in Anlehnung an die Route 66 in den USA. Und die Aufgabe des Teams war nicht die Erstellung einer Werkshalle, sondern die Überführung von Flugzeugteilen ins weit entfernte und erfundene Santa Montana.
Die realen Protagonisten wurden zu Comicfiguren verfremdet. Sie erlebten in dieser fiktiven Welt aber ähnliche Situationen und mussten vergleichbare Herausforderungen wie das reale Projektteam meistern. So erlebten sie die Vor- und Nachteile eines kooperativen Führungsstils, der Ihnen viel Spielraum für eigenverantwortliche Entscheidungen ließ, aber auch persönliche Verantwortung bedeutete. Sie hatten mit eigenwilligen Kooperationspartnern zu kämpfen und erfuhren Störungen, in denen deutlich wurde, zu welch prekären Situationen es führen kann, wenn man im Alleingang handelt.
Es entstanden vier thematische Kurzgeschichten, die die Themen Führungsstil, Kooperation, Rollenverständnis und zudem die gegenseitige Wertschätzung aufgriffen und jeweils mittels einer Abenteuerstory typische Herausforderungen von Führungskräften aufzeigten.
Beispiel-Comic zum Rollenverständnis (siehe Abbildung): Gezeigt wird Udo Allvoran, den Fahrer eines Megasattelschleppers, wie er auf die Hupe drückt, um eine Herde Kühe von der Fahrbahn zu scheuchen, damit „sein“ Projektplan nicht gefährdet wird. Den Vertragspartner, der seinen LKW anhält, um zusammen im Team das weitere Vorgehen zu besprechen, fegt Udo von der Fahrbahn.
In einem eintägigen Workshop mit allen Interviewpartnern und der Führungsebene wurden die Kurzgeschichten erzählt und die Comics vorgestellt. Gemeinsam diskutierten und reflektierten die Teilnehmer über unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen, Konfliktfelder und suchten nach Lösungsstrategien und Verbesserungsansätzen für zukünftige Projekte.
Beispielsweise wurde das Thema Projektrollen anhand des Kuhherden-Comics diskutiert. Was ist für einen Projektleiter in dieser Situation das richtige Verhalten? Diskutieren und Handeln im Team oder eine schnelle Lösung im Sinne des Zeitplans?
Durch die Verpackung der Themen in eine fiktive Abenteuerstory, in der die Protagonisten Erfolge und Misserfolge erleben, waren die Workshopteilnehmer Zuschauer und keine Akteure, die selber Fehler begangen hatten. Aus dieser „bequemen“ Distanz konnten sie zunächst beobachten, was die Helden der Geschichte erleben, und dann aus einer sicheren Entfernung ihr eigenes Verhalten analysieren. Der Effekt ist besonders groß, wenn die Geschichte in einer fiktiven Welt spielt.
Auch der Humor spielt eine wesentliche Rolle, besonders wenn er bei ungemütlichen Wahrheiten eingesetzt wird. Die Überzeichnung der Figuren und ihres Verhaltens in den Kurzgeschichten und vor allem in den Comics ließ die Teilnehmer schmunzeln und ermöglicht es, sich den kritischen Themen zu öffnen. In der erzählten Parallelwelt konnte darüber gesprochen werden, ob Verhaltensmuster konstruktiv oder nicht „teamy“ sind. Es war auch möglich, gedanklic h zu experimentieren. Denn keiner sprach über sich selbst, sondern über die Protagonisten und ihre Missgeschicke.
„Wahr“: Damit ist ein seriöses Aufzeichnen authentischer Stories gemeint. Es dürfen nur solche Inhalte in die Geschichten, die durch Interviews belegbar sind. Mutmaßungen und kreative Ideen der Autoren bleiben außen vor, selbst wenn sie eine Geschichte bereichern würden.
„Lehrreich“: Die Inhalte der Geschichten müssen einen erkennbaren Lerneffekt für die Zielgruppe aufweisen. Sie dienen in erster Linie der Unterstützung des Veränderungsprozesses im Unternehmen und nicht der reinen Unterhaltung.
„Spannend“: Dennoch, Erfahrungsgeschichten grenzen sich von herkömmlichen Projektdokumentationen und Unternehmensberichten dadurch ab, dass sie bewusst anders gestaltet sind. Es soll Spaß machen, sie zu lesen. Sie sind narrativ entlang eines Spannungsbogens angelegt und sollen nach Möglichkeit gute Illustrationen, etwa in Form von Comics enthalten.
Teils bereits unbewusst beim Lesen, teils moderiert durch Fragen der externen Berater und durch Diskussionen im Workshop fand die Übertragung der Geschichten und ihrer Bedeutungen in die Realität des Projektteams statt: Was heißt das für mein eigenes Verhalten, was für uns als Team? Wie können wir für die Zukunft lernen? Welche konkreten Veränderungen müssen wir vollziehen? Wer von uns muss dazu welchen Beitrag leisten? Diesen Leitfragen stellte sich die Gruppe im zweiten Teil des Workshops.
Durch die Storytelling-Analyse gelang es, besonders die zwischenmenschlichen Themen, die sich durch das ganze Projekt zogen, ins Blickfeld zu rücken und eine Reflexion des eigenen Verhaltens anzustoßen. Diese Reflexion ist der erste Schritt für eine nachhaltige Verhaltensänderung.
Aus dem Storytelling-Prozess wurden mittlerweile unternehmensweite Handlungsempfehlungen für Projektleiter identifiziert. Die Methodik ist heute ein fester Bestandteil im Schulungsprogramm der MTU. Zukünftig kann der Storytelling-Prozess auch für komplexe Transformationen genutzt werden, um die Projekte effizienter umzusetzen.
* Lange, S. & Thier, K. (2017), MTU Aero Engines: Storytelling und Comics für eine andere Art der Veränderung. In: Changement!, Heft 09/17, S. 16-19.
Beitragsbild: Illustration von Carsten Herbert (Agentur Heldenstreich)