Es ist nicht zu übersehen: Die Arbeit mit authentischen Geschichten erfreut sich immer größerer Beliebtheit! Heute dürfen wir ein Visual Storytelling-Projekt von Martina Schradi vorstellen, welches dabei ganz nah am Puls der Zeit ist.
Unter dem Motto “Ach, so ist das?!” sammelt Comiczeichnerin Martina Schradi wahre Geschichten über Lebensweise und Erfahrungen von LGBTI* – Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transidenten, Transgender und Intersexuellen – und zeichnet daraus biografische Comicreportagen. Das Ziel des Projekts: deutlich zu machen, welche Schwierigkeiten sich im Zusammenleben mit Anderen für Menschen ergeben, wenn sie eine sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität leben, die nicht der Mehrheit entspricht.
Die Comics gibt es auch als Wanderausstellung, die 2014 mehrfach ausgestellt werden, u.a. in München, Paderborn, Köln, Stuttgart und Salzburg. Im Mai erscheinen die besten Geschichten als Buch im Zwerchfell Verlag. Parallel dazu bietet das „Ach, so ist das?!“-Team Comiclesungen, Vorträge und Workshops zum Thema an. Auf Basis der Comics entwickelt die Nürnberger Gruppe zudem gerade einen Methodenkoffer, mit dem sich das Thema LGBTI im Unterricht oder am Arbeitsplatz vermitteln lässt.
Das Projekt wird im Rahmen des Bundesprogramms “TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN” vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, vom Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg und von der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung gefördert
Weitere Infos zum Projekt: www.achsoistdas.com
Woher die Idee zu diesem ungewöhnlichen Projekt kam und wie es umgesetzt wurde, erzählt uns Martina Schradi nun genauer:
Wie es zu dem Projekt kam, ist schnell erzählt. Ich saß mit meiner besten Freundin beim Eiskaffee und wir erzählten uns Anekdoten aus dem Freundeskreis: „Fabios Mutter verkraftet es immer noch nicht, dass er schwul ist. Stell dir vor, was die neulich zu ihm gesagt hat!… “, „Helene hat mir gestern ihre Coming-Out-Geschichte erzählt…”, „Sasha macht sich ständig Gedanken, wie Andere auf seine Intersexualität reagieren…”
Nach wie vor werden LGBTI* diskriminiert: sei es in der Schule oder am Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen, in den Kirchen, in den Medien und in ihrem öffentlichen oder privaten Umfeld. Diskriminierung entsteht oft durch Unkenntnis oder durch falsche Bilder im Kopf – ein Problem ist dabei auch die Nicht-Sichtbarkeit von LGBTI-Personen in der Gesellschaft.
Deshalb hatten wir die Idee: Warum nicht biografische Comicreportagen zeichnen, die LGBTI-Menschen und ihre Identität und Lebensweise jenseits von gängigen Klischees sichtbar und begreifbar machen?!
Storytelling ist ja eine etablierte Methode, um persönliche Erlebnisse zu erzählen und damit Sichtbarkeit herzustellen, kulturell wertvolles Wissen weiterzugeben und Vorurteile abzubauen. Die Forschung aus der narrativen Psychologie zeigt zudem, dass die Aufzeichnung und Weitergabe von wahren Geschichten höchst sinnstiftend für die Befragten wirkt und zu einer positiv besetzten Identität beiträgt.
Biografische Comics oder die Methode des Visual Storytelling bieten noch mehr: durch die bildhafte Darstellung und erzählerische Mittel wie Humor, Übertreibung, Metaphern können selbst Themen, die vielen fremd oder gar tabu vorkommen, auf niederschwellige, interessante und leichte Art dargestellt werden.
Also machte ich mich auf die Suche nach wahren Geschichten von LGBTIs. Ich habe mir sehr viele Erzählungen angehört, traurige und lustige, verblüffende und unglaubliche, bei Eiskaffee oder Kuchen, per E-Mail, in Telefonaten und so weiter.
Die meisten Befragten brachten ein eigenes Thema mit, eines, das ihnen persönlich am Herzen lag. Nur wenige wollten teilnehmen ohne ein bestimmtes Erlebnis beizutragen – für die hatte ich einen kleinen „Fragenkatalog“ vorbereitet, der uns half, ein Thema herauszukristallisieren.
Das weitere Vorgehen war weitgehend standardisiert:
Zunächst wandelte ich die „Rohform“ des Berichts nach allen Mitteln der Erzählkunst erst in eine kohärente Ich-Erzählung und danach in eine Art Drehbuch in Dialog- oder Monologform um. Dieses wurde im nächsten Schritt skizzenhaft visualisiert und als ein-oder dreiseitige Comicgeschichte aufgebaut. Parallel dazu entwarf ich einen „Charakter“ für die Hauptperson und weitere auftauchende Personen im Comic. Die Skizzen schließlich bildeten die Basis für die Reinzeichnung, die abschließend gescannt und koloriert wurde.
Das alles passierte möglichst in enger Zusammenarbeit mit der interviewten Person, immer wieder sprach ich die einzelnen Fassungen der Story ab, fragte nach und korrigierte. Mir war besonders wichtig, dass die Geschichte möglichst authentisch war und sich die befragte Person darin wiederfinden konnte.
So entstand eine Sammlung von etwa 20 Comics. Immer wieder tauchten dabei ähnliche Themen auf – beispielsweise Erfahrungen beim Coming-Out in der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz, Umgang mit Geschlechterrollen und geschlechtstypischen Erwartungen, Familie, Unterstützung, Freundschaft und Liebe bei LGBTI oder Fragen von Identität und Orientierung.
Es gab sie also tatsächlich, die kollektiven Erfahrungen von LGBTI, die hier sichtbar gemacht werden.
Die Comics sind eine Einladung an alle Interessierten, sich in der LGBTI-Welt umzusehen, sich auseinanderzusetzen und auszutauschen über ein Thema, das ihnen bisher vielleicht ziemlich unbekannt war.
Das Vorgehen bei der Erstellung dieser Comicreportagen und die Art ihrer Aufbereitung ist ein innovativer, richtungsweisender Weg beim Umgang mit Erfahrungen, Erlebnissen und generell mit Wissensthemen, der sicherlich in vielen Kontexten denkbar ist.
Viele inspirierende Grüße schicken Karin Thier & Christine Erlach