1998, vor zwanzig Jahren, war das Wort „Storytelling“ in deutschen Unternehmen noch völlig unbekannt. Heute ist „Storytelling“ allgegenwärtig. Aber wie kam es in deutschsprachige Unternehmen? NARRATA und Michael Müller erzählen von den beiden Quellflüssen, die sich wie blauer und weißer Nil gemeinsam mit anderen Flüssen zum großen Strom des Storytelling vereinigten.
1998, Ludwigs-Maximilians-Universität München. Eines Tages entdeckte ich im Harvard Business Manager einen spannenden Artikel über die Nutzung von Erfahrungswissen in Unternehmen – die Autoren Art Kleiner und George Roth vom Massachusetts Institute of Technology beschrieben dort die Methode „Learning Histories“, die das Erfahrungswissen von Projekt-Teams aus der Automotive-Branche erfasste, dieses Wissen in einer multiperspektivischen Erzählung festhielt und dank eines didaktischen Begleitkonzeptes wieder in das Unternehmen zurückspielen konnte, so dass es in Folgeprojekten genutzt wurde.
Wir waren sofort Feuer und Flamme für diesen Ansatz: denn hier sahen wir einen Meilenstein in der Debatte um geeignete Wissensmanagement-Instrumente, die bislang eigentlich nur Informationen managen konnten, nicht aber verborgenes Wissen und Erfahrungen von Experten in ihrem Arbeitskontext!
Wir schrieben damals am Lehrstuhl einen ersten Forschungsbericht zu dieser neuen Methode und tauften unseren Artikel „Erfahrungsgeschichten durch Story Telling – eine multifunktionale Wissensmanagement-Methode“. Damit benutzen wir, ohne es zu wissen, mehr oder weniger zur gleichen Zeit wie Michael Müller und seine Kollegen, die aus ganz anderen fachlichen Hintergründen stammten, das Wort „Storytelling“ erstmalig im wissenschaftlichen Kontext! Doch wie Michael Müller dazu kam, zeitgleich mit uns mit Erzählungen zu arbeiten, ist eine andere Geschichte. Wir schrieben unsere Artikel über narrative Methoden anfangs noch mit „Story Telling“ in 2 Worten, im Laufe der steigenden Bekanntheit von „Storytelling“ benutzten auch wir diesen eigentlich viel zu kurz greifenden Begriff.
Ein paar Monate nach dieser Publikation erhielt ich einen Anruf von der Personalverantwortlichen des Stahlherstellers voestalpine Linz AG. Sie würden eine zweite Feuerverzinkungsanlage bauen und hätten auf der Suche nach geeigneten Methoden zum Heben des Erfahrungswissen aus dem Bau der ersten Anlage unseren Artikel entdeckt – ob wir denn auch kommerzielle Aufträge annehmen würden?
Das war der Moment der Entscheidung. Ich gründete die „Story Telling GbR“ und zusammen mit 5 weiteren Doktoranden von Gabi Reinmann warf ich mich in unser erstes Storytelling-Projekt in einem Unternehmen! Wir lauschten den Erinnerungen von 10 erfahrenen Ingenieuren, was sie damals beim Neubau der Feuerverzinkungsanlage erlebt hatten und welche Lessons Learned und Best Practices sie gesammelt hatten. Wir diskutierten lange Abende über die Auswahl der markantesten Schlüsselpassagen aus den 10 Erzählungen, die wir als Baumaterial in der Erfahrungsgeschichte einsetzen wollten, wir waren nervös, wie wohl der Transfer-Workshop verlaufen würde, in dem die Erzähler mit den jungen, unerfahrenen Ingenieuren zusammenkommen sollten, um gemeinsam über die Erfahrungsgeschichte zu diskutieren.
Doch unser erster Einsatz von narrativen Methoden in einem Unternehmen verlief sehr positiv! Voestalpine Linz war äußerst zufrieden, die GbR löste sich allerdings bald wieder auf, zu jung war das Thema Storytelling noch, um für uns alle einen Lebensunterhalt aufzubauen.
Aber meine alte Kollegin am Lehrstuhl Andrea Neubauer und ich blieben mit Karin Thier, die sich am Fraunhofer Institut in Stuttgart auch mit den Learning Histories beschäftigt hatte und bis heute meine Geschäftspartnerin bei NARRATA ist, am Ball: wir bewarben uns für eine Förderung am Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst für Start-Ups: die Zeit erschien uns reif für eine Methode, die in der Lage ist, verborgenes Erfahrungswissen, implizite Werte und verdeckte Regeln in Unternehmen zu heben! Wir bekamen die Fördermittel zugesprochen und konnten so NARRATA Consult aufbauen, unser wissenschaftliches Beraternetzwerk, das sich nun seit fast 20 Jahren auf den Einsatz narrativer Methoden in Unternehmen spezialisiert hat.
Andrea verließ uns nach einer Weile, doch Karin und ich sammelten immer mehr Erfahrungen mit dem Einsatz narrativer Methoden; durch unsere Publikationen wurde Storytelling im Laufe der Jahre ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des Wissensmanagement-Instrumentariums. Schon bald wurden wir aber nicht nur im Kontext von Projekt-Debriefing und Leaving Experts gerufen. Sondern wir wurden auch beauftragt, um mithilfe von narrativen Methoden die Entwicklung von Führungsleitbildern zu begleiten, Unternehmenskulturen zu analysieren, oder das Branding für das Recruiting neuer Mitarbeiter zu optimieren.
Storytelling ist längst in aller Munde, heutzutage wird man nicht mehr belächelt, wenn man mit diesem Ansatz in Unternehmen auftritt. Auch wenn der Begriff „Storytelling“ seit ein paar Jahren stark mit dem Marketing assoziiert wird: NARRATA war gestaltend von den ersten Anfängen der narrativen Methoden in deutschsprachigen Organisationen mit dabei und so kennen wir den wahren Reichtum der narrativen Berater-Haltung und die Vielfalt an Anwendungsmöglichkeiten von narrativen Methoden. Und ich bin mir sicher: unsere Reise ist noch lange nicht zu Ende, es gibt noch immer ein riesiges Potential für die Arbeit mit Erzählungen in Organisationen zu entdecken!
Beste Grüße sendet
Christine Erlach
(Photo by Joshua Fuller on Unsplash)